Herzratenvariabilität
Auch ein "rhythmischer" Herzschlag weist geringe Unregelmäßigkeiten
auf. Die Herzratenvariabilität (HRV), auch Herzfrequenz- oder
Herzschlagvariabilität genannt, beschreibt diese Unregelmäßigkeiten in
der Schlag-zu-Schlag-Folge. Unser Herz arbeitet nicht in einem starren
Rhythmus, sondern muss sich den Umgebungsbedingungen und
Notwendigkeiten der bestehenden Situation anpassen. Je nachdem ob wir
schlafen, arbeiten, Sport treiben, sitzen, liegen, regenerieren,
nachdenken, Angst haben etc., benötigen wir einen unterschiedlichen
Blutdruck und andere Mengen von Blut pro Zeiteinheit, das durch unseren
Kreislauf fließt. Die Regulierung erfolgt durch eine sehr komplexe
Steuerung im zentralen Nervensystem, welches durch das autonome
Nervensystem (ANS) und das Hormonsystem mit dem Herzen und anderen
Organen verbunden ist.
Bereits die alten Chinesen, die sehr viel
Wert auf die Beurteilung des Pulses ihrer Patienten legten
(Pulsdiagnostik), erkannten die Bedeutung dieser leichten
Variationen im Herzschlag. Der Arzt Wang Shu-Ho (180-270 n. Chr.)
stellte bereits fest:
"Wenn das Herz so regelmäßig wie das Klopfen eines Spechtes oder das
Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von 4
Tagen sterben"
Diese
für damalige Verhältnisse erstaunliche Beobachtung verdeutlicht bereits
die große Bedeutung der Herzschlagveränderungen für unsere Gesundheit.
Der
erste Blick eines Kardiologen auf ein EKG fokussiert auf den Rhythmus
des Patienten, der möglichst regelmäßig und frei von
Herzrhythmusstörungen sein sollte. Diese feinen Variationen im
Herzschlag sind aber keine Herzrhythmusstörungen, sondern im Gegenteil
zeigen sie den gesunden Menschen an. Je variabler, also je höher die
HRV in Ruhe ist, desto gesünder ist der Mensch und umgekehrt, je
eingeschränkter die HRV ist, desto mehr ist sein inneres Gleichgewicht
aus der Balance geraten. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde die
Bedeutung der Herzratenvariabilität als Indikator des Zustands des
autonomen oder vegetativen Nervensystems erkannt. Die Kardiologen
nutzen einige Parameter der HRV zur Risikobeurteilung der Patienten
nach einem Herzinfarkt oder mit einer Herzschwäche. Man kann mit der
Messung der HRV aber noch mehr Aussagen, auch bei "Gesunden" im Rahmen
von Vorbeugung/Prävention treffen. Daher nutze ich die Messung der HRV
in der Praxis regelmäßig auch für meine Patienten.
Die HRV
wird zum einen im Rahmen von Langzeitmessungen (24h) bestimmt, die
dann sowohl eine Tag- als auch eine Nachtphase beinhalten, zum anderen
aber auch mittels standardisierter Kurzzeitmessungen ermittelt.
Die
HRV-Messung ist kein spezifischer diagnostischer Test mit dem man
Krankheiten genau erkennen kann. Als ein globaler Kennwert für
ein ausgewogenen System bzw. als ein Alarmzeichen für eine Störung
kann die HRV-Messung sehr hilfreich sein. Ähnlich wie Fieber bei einer
Körpertemperaturmessung ein Warnsignal darstellt, zeigt eine niedrige
HRV an, dass grundsätzlich etwas nicht stimmt. Welche
Erkrankung das Fieber ausgelöst hat, kann durch die reine
Temperaturmessung nicht bestimmt werden und welches Problem eine
niedrige HRV hervorgerufen hat, kann die Messung ebenfalls nicht
herleiten. Die Erfassung von Fieber oder einer niedrigen HRV
ist aber Anlass, weiter zu suchen und den Status zu verbessern.
Das Fehlen von Fieber oder eine normale HRV ist aber auch kein 100%iger
Beweis für das Fehlen einer Erkrankung. Für die richtige Interpretation
von HRV-Messungen müssen viele Dinge berücksichtigt werden. Das beginnt
schon mit der Benutzung technisch präziser Messapparaturen, der
Einhaltung bestimmter Voraussetzungen für valide Messungen und Nutzung
seriöser Software für die Auswertung der Messergebnisse. Die HRV hängt
von Alter, Körpergewicht, Geschlecht, Vorerkrankungen, der
Körperposition bei den Messungen, der Medikation, Lebensstil etc. ab.
Eine angemessene Interpretation der Werte kann daher nur nach
einer exakten Anamnese mit Erfassen sämtlicher wichtiger Faktoren im
psychischen und physischen Bereich erfolgen.
Erst die
Zusammenschau von vielen Puzzleteilen lässt einen ganzheitlichen Blick
auf den Patienten zu, der für eine individuelle Therapie notwendig ist.