Stress/Stressreaktion
Stress ist ein inflationär
benutztes Schlagwort unserer Zeit und muss als Erklärung für viele
negative körperliche und seelische Zustände herhalten. Es wird so
häufig und undifferenziert benutzt, dass dieser wichtige
psychophysische Prozess manchmal schon wieder aus dem Blickfeld
verschwindet.
Bevor
man über Stress spricht, muss man sich erst einmal einigen, wie man
Stress definiert. Der ungarischen Stressforscher Selye hat Stress
zunächst als "unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Form von
Anforderung" beschrieben (ca. 1936 ). Später auch als ein "Zustand der
Alarmbereitschaft des Organismus, der sich auf eine erhöhte
Leistungsbereitschaft einstellt" (ca. 1950). Wenn wir in einem
Zustand der Ruhe sind, benötigen wir Veränderungen von Geist
und Körper, um in einen Zustand der Leistungs- fähigkeit zu wechseln. So muss z.B. das
Herz-/Kreislaufsystem angeregt werden und die Hirnwellen müssen in
einem schnelleren Takt arbeiten als in Ruhe. Diese Anregung kann auf
einem niedrigen Level stattfinden bei der täglichen Arbeit oder aber
auch mal extrem sein, wenn wir z.B. in großer Gefahr sind und plötzlich
"kämpfen" oder "fliehen" müssen. In diesem Sinne ist Stress ganz
allgemein also eine Aktivierung des Menschen auf allen Ebenen und damit
zunächst nichts Negatives. Der ständige Wechsel von Aktivität und
Entspannung ist für den Menschen wichtig und hält ihn erst gesund
sowie leistungsfähig. Wichtig ist hier aber eben der Wechsel zwischen
Anspannung und Entspannung. Jeder Phase von Anspannung muss eine
adäquate Phase der Entspannung folgen, damit unser inneres
Gleichgewicht aufrecht erhalten wird.
Wenn wir innerlich im
Gleichgewicht sind, befindet sich unser Anspannungs- oder Stressniveau
auf einer niedrigen Stufe. Machen wir zu wenig adäquate Erholungspausen
oder werden die Belastungsfaktoren ohne Ausgleich für uns zu groß, dann
steigt unser Stresslevel an und unser System gerät aus dem
Gleichgewicht. Das ist deswegen so ungünstig, da jeder von uns eine
individuelle Schwelle hat, die ihn beim Überschreiten physisch und
psychisch krank werden lässt. Und je höher unser allgemeines
Anspannungsniveau ist, desto näher sind wir dieser Grenze (siehe
Abbildung). Auf niedrigem Niveau können zusätzlich zum "Alltagsstress"
noch weitere leichte bis schwere Belastungsfaktoren dazukommen, ohne
dass wir an unsere individuelle Grenze herankommen. Es muss schon ein
sehr starker Stressfaktor wie das Verlieren einer geliebten Person oder
Ähnliches hinzukommen, um uns vom niedrigen Level über unsere
krankmachende Schwelle zu heben. Meistens sind wir dann aber schnell
wieder im "normalen" Bereich. Ganz anders hingegen, wenn wir schon auf
hohem Niveau nahe der Schwelle leben. Hier bedarf es nicht viel und wir
sind jedesmal oberhalb der Grenze.
Wir haben keinen echten
Sensor für unseren Stress und können häufig nicht exakt einschätzen,
wie belastet wir wirklich sind, bzw. wie nah wir unserer individuellen
Grenze schon gekommen sind. Denn auch auf dem hohen Stresslevel spüren
wir oft noch die täglichen An- und Entspannungsphasen und meinen, es
sei noch alles in Ordnung. Unser autonomes oder vegetatives Nervensystem
(ANS) ist der Teil des Körpers, der den inneren Gleichgewichtszustand
aufrecht erhält und anzeigt. Das ANS unterteilt man sehr vereinfachend
in zwei Teile, das sympathische und das parasympathische System. Der
Sympathikus aktiviert unseren Körper und Geist und repräsentiert
sozusagen das Gaspedal des Menschen. Der Parasympathikus ist umgekehrt
unsere Bremse und während Erholungsvorgängen aktiv. Daher kann
eine Messung dieser beiden Teile des ANS Auskunft über unseren
Gleichgewichtszustand geben. Im besten Falle ist das autonome NS in einem dynamischen
Gleichgewicht und Sympathikus und Parasympathikus halten sich die
Waage. Bei Imbalancen nennt man den Zustand auch autonome Dysfunktion
und dieser ist mit verschiedenen Erkrankungen assoziiert.
Eine Möglichkeit einen Einblick in unser ANS zu erhalten, ist die Messung der
Herzratenvariabilität (siehe auch dort).
Zur
sinnvollen Differenzierung unterteilt man Stress in sogenannten "guten
Stress" (Eustress) und "schlechten Stress" (Disstress, Dysstress).
Eustress ist eine notwendige und positiv erlebte Aktivierung des
Organismus, z.B. eine Herausforderung mit Aussicht auf Belohnung, in
der man auch Glücksmomente empfinden kann und sich grundsätzlich wohl
fühlt. Disstress dagegen ist eine belastend erlebte
und schädlich wirkende Reaktion des Menschen auf ein Übermaß an
Anforderungen. Nach Phasen von Eustress fällt das Einleiten
einer angemessenen Entspannung häufig wesentlich leichter als nach
Disstress, der einen häufig auch nach Abklingen der eigentlichen
Belastungsphase nicht zur Ruhe kommen lässt.
Im alltäglichen Sprachgebrauch meinen wir mit "Stress" oft "Disstress".
Entscheidend
dafür, ob wir in einer bestimmten Situation überhaupt Stress erleben
und wenn, ob es dann positiver oder negativer Stress ist, hängt nach
dem Stressmodell von Lazarus von unseren individuellen Bewertungen ab,
die wir bewusst oder unbewusst in jeder Situation vornehmen.
Wir
fragen uns erstens immer, ob das, was gerade mit uns und um uns herum
passiert, für uns in irgeneiner Form eine "Bedrohung" darstellt. Das
kann von einer drohenden Peinlichkeit bis zur Lebensgefahr reichen.
Entscheiden ist aber die zweite Frage für den Fall, das wir tatsächlich
eine Bedrohung verspüren. Und diese Frage lautet: Werde ich mit dieser
Bedrohung fertig? (Habe ich also selbst genug Kraft, "Werkzeuge" oder
Fertigkeiten, um die Situation zu meistern oder kenne ich jemanden der
mir dabei helfen würde?). Immer dann wenn ich diese Frage für mich
verneinen muss, dann bekomme ich Disstress.
Das
bedeutet, dass die Entstehung von Disstress nicht nur durch äußerliche
Faktoren bestimmt wird, sondern maßgeblich auch von der eigenen
Bewertung abhängt, denn nicht jeder empfindet in der gleichen Situation
denselben Stress. Unsere Bewertungen hängen z.B. von unserer
Lerngeschichte, unseren positiven/negativen Erfahrungen, von
übernommenen Urteilen und Vorurteilen, unseren Motiven, dem Gefühl von
Kontrolle und Selbstwirksamkeit und unserem sozialen Netzwerk ab. Auch
Inkongruenzen im psychischen Geschehen im Sinne der
Konsistenztheorie von Prof. Grawe (siehe auch dort) können Stress und Dauerstress verursachen.
In einigen Situationen bekommen Menschen aber
immer Stress, weil wir "Programme" in uns tragen, die dafür sorgen,
dass wir in Gefahrensituationen sofort reagieren können, um Schlimmeres
zu verhindern.
Potentiell lebensbedrohliche
Stimuli wie laute Geräusche (Knalleffekte), Schmerzen etc., lösen eine „Stress- oder auch Alarmreaktion“ reflexartig
aus und diese ist
oft mit dem Gefühl von Angst verbunden. Eine zentrale Aufgabe der „Stressreaktion“ ist es,
dafür zu sorgen, dass unser Körper bei erkannten Gefahren
schnellstmöglich in einen Zustand versetzt wird, der eine rasche Flucht
oder Kampfreaktion ermöglicht.
Verantwortlich
ist dafür unser
„emotionales Gehirn“, das sogenannte „limbische System“, welches zu den
alten Teilen unseres zentralen Nervensystems gehört und welches wir
daher mit den Säugetieren teilen. Und weil diese Reaktion so
entscheidend für das Überleben in der Wildnis war, wird sie erst einmal
in Gang gesetzt ohne unser Bewusstsein um Erlaubnis zu fragen.
Alles was wir über das "Sehen",
"Hören" und über das "Fühlen" über die Sinnesorgane wahrnehmen,
gelangt sofort in einen Teil des emotionalen Gehirns, welcher dem
Bewusstsein nicht zugänglich ist. Bevor wir bewusst wahrnehmen was passiert, ist
die „Stressreaktion“ bereits ausgelöst und wir reagieren z.B. mit Erstarren,
Abwehr, Flucht, Blutdruck- und Herzfrequenzerhöhung. Diese
Reaktion findet auch manchmal im Alltag statt, obwohl es hier kaum noch
darum geht, das Überleben im eigentlichen Sinne zu sichern.
Erst
im Nachhinein, wenn wir erkannt haben, dass doch keine Gefahr droht
(z.B. wir erkennen, dass "der Chef doch nicht mich meint mit seiner
Wutrede"), haben wir dann die Möglichkeit, die ausgelöste
Stressreaktion wieder zu beenden.
Angst und Stress können aber auch jederzeit neu gelernt werden. Wenn
wir schlechte Erfahrungen machen, z.B. in der Tiefgarage angepöbelt
oder vielleicht sogar überfallen wurden, kann dieses Erlebnis im
emotionalen Gehirn gespeichert werden und später allein das Betreten
von Tiefgaragen oder auch nur der Gedanke daran wieder Stress und Angst auslösen.
Die
folgende Abbildung fasst den Text nochmal zusammen. Die
„Stressreaktion“ gilt als ein zentrales Bindeglied zwischen Psyche und
Körper bzw. Psyche und
Herz.
Kurzfristig sind
die körperlichen Vorgänge im Rahmen der Stressreaktion hilfreich, da
sie das Herz-Kreislaufsystem auf eine hohe Leistungsbereitschaft
vorbereiten. Die kurzfristig günstigen Veränderungen im Körper führen
längerfristig bei einer Dauerstressreaktion aber zu schädlichen
Einflüssen auf Herz und Gefäße und erklären teilweise den in der
Psychokardiologie gefundenen Zusammenhang zwischen psychischen
Belastungen und Herzerkrankungen.
Um Veränderungen im Stresserleben und in der
Stressverarbeitung zu bewirken, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die
individuell angepasst werden müssen.
Daher erfolgt in der Ambulanz vor
einer Beratung/Therapie eine ausführliche Analyse Ihrer persönlichen
physischen und psychischen Voraussetzungen.